Licht und Schatten
Umgestaltung der neugotischen Kirche St. Nicolaus und Errichtung eines Lern- und Gedenkortes
Hamburg-Alsterdorf
2014 - 2022
Dieses Objekt wurde von der Hamburgischen Architektenkammer für den Tag der Architektur 2022 und das Jahrbuch Architektur in Hamburg 2022/23 ausgewählt.
Die 1889 geweihte neugotische Kirche St. Nicolaus in Hamburg-Alsterdorf dient der Evangelischen Stiftung Alsterdorf als spirituelle und liturgische Mitte. Sie ist das letzte vom Stiftungsgründer Pastor Sengelmann initiierte Gebäude auf dem Gelände der früheren Alsterdorfer Anstalten.
1938 wurde das Kircheninnere im Ungeist der Zeit radikal überformt. Das Chorfenster mit einer Glasmalerei des Künstlers Melchior Lechter wurde zerstört und ausgemauert. Stattdessen entstand ein monumentales, den Chor hermetisch abschließendes Sgraffito-Altarbild, auf dem im Kreise der heiligenscheinumkränzten Menschen unter dem Kreuz gerade die drei Schutzbedürftigen ohne Gloriole dargestellt sind. Die ausgrenzende Bildaussage, der Entstehungskontext in der Zeit der Verstrickung der damaligen Alsterdorfer Anstalten in den Nationalsozialismus sowie der massive und düstere Raumabschluss beeinträchtigten in den vergangenen Jahrzehnten die liturgische Nutzung der Kirche immens.
Nach dem Umbau steht die Kirche St. Nicolaus nun als lichtes Haus eines freundlichen Gottes wieder allen Menschen offen: ohne länger zu bedrücken, aber auch ohne die über 130-jährige Bau- und Nutzungsgeschichte zu verschweigen, die eine wechselvolle Geschichte von Zuwendung und Ausgrenzung, von Aufarbeitung und Erinnerung, von Eingliederung und Inklusion ist.
Um den Kirchenraum wieder zum östlichen Tageslicht auszurichten und von der Last des Bildes zu befreien, dieses aber gleichzeitig als ein Dokument der Täterkunst aus dem Spannungsfeld Kirche und Nationalsozialismus zu erhalten, wurde es in den Kontext eines Lern- und Gedenkortes in den Außenraum transloziert. Im Ganzen mit der bauzeitlichen Chorwand versetzt, gedreht und auf einer tieferen Ebene positioniert bleibt der unmittelbare Bezug zum Kirchengebäude weiterhin bestehen. Auf der Rückseite der sichtbar belassenen Backsteinwand – der Kirche zugewandt – sind die Namen der Alsterdorfer Opfer der „Euthanasie“ zu lesen: zwischen 1940 und 1943 wurden 630 Bewohner und Bewohnerinnen der Alsterdorfer Anstalten in nationalsozialistische Tötungsanstalten deportiert, 513 von ihnen nachweislich ermordet.
Die Profilteilung der neuen, mehrschichtigen gläsernen Chorwand greift die aufsteigende Schichtung der Zierstreifen und Gesimse in der alten Backsteinfassade auf und deutet durch die unterschiedliche Profiltiefe ein Kreuz an. Die Glasfassadenfelder sind handwerklich in unterschiedlicher Intensität mattiert: über und unter einem Klarglas-Sichtstreifen in Augenhöhe transluzent-opak, nach oben hin transparenter werdend. Die Wolken der Mattierung sind ein biblisches Symbol der verhüllten Gegenwart Gottes und stehen für die Bewegtheit des Himmels.
Gefasst ist die Chorwand durch ein Gewände aus rostroten Cortenstahl-Platten, die die tragende und aussteifende Stahlprofil-Konstruktion umhüllen und sich farblich der Backsteinwand angleichen.
Ein horizontales Band aus metallischem Bronze-Gewebe vor der Fassaden-Außenseite dient als Sonnenschutz und Lichtfilter. Zwei vertikale Bänder aus hellem textilem Gewebe vor der Innenseite bilden zusammen ein großes Antependium und erinnern an den im Johannesevangelium beschriebenen entzweigerissenen Vorhang des Jerusalemer Tempels. Das Antependium kann zum Gottesdienst mittels violettem, weißem, rotem oder grünem LED-Licht in die jeweilige liturgische Farbe gehüllt werden.
Der Stoffbehang nimmt nicht die gesamte Glaswandbreite ein und lässt so seitliche Durchblicke durch den Klarglasstreifen auf den Gedenkort zu. Die beiden Hauptprofile der Verglasung bleiben in ihrer Kreuzform erahnbar, zugleich bilden beide Bänder zusammen ein großflächiges, abstraktes Auferstehungskreuz. Die Triptychon-Form knüpft zudem an sakralräumliche Sehgewohnheiten an.
In der Westwand zwischen Empore und Turm befand sich ursprünglich ein der Triumphbogenwand entsprechender offener Spitzbogen, der ebenfalls vermutlich 1938 geschlossen wurde. Dieser Bogen, der teilweise durch den Orgelprospekt aus den 1960er Jahren überdeckt wird, wurde als Innenfenster wieder zur vorhandenen Westrosette im Turm hin geöffnet.
Durch die beiden „neu-alten“ Raumöffnungen entsteht wieder eine Lichtachse, die von der Rosette über das Emporenfenster zur Apsiswand reicht, und weiter gedacht von der Kirche zum Gedenkort und von der Stadt zum Stiftungsgelände. Die Öffnung von Ost- und Westseite bringt ein Mehr an gefiltertem Tageslicht und unterschiedliche tageszeitliche Lichtstimmungen in den Raum – insbesondere durch das warme Morgen- und Abendlicht, das jetzt in den Raum fallen kann.
Die Bedeutung der Morgen- und Abendstunde für die christliche Theologie, Spiritualität und Liturgie findet ihren Ausdruck in der traditionellen Ostung der Sakralbauten durch die Jahrhunderte und der Gestaltung ihrer nach Westen und Osten ausgerichteten Fensteröffnungen.
Den Baumeistern, die St. Nicolaus Ende des 19. Jahrhunderts errichtet haben, war dies noch deutlich bewusst, den Bauleuten, die die Überformung von 1938 zu verantworten haben, offensichtlich nicht mehr.
Die Translozierung der Chorwand war technisch höchst anspruchsvoll und stellte sicherlich einen radikalen Eingriff in das Baudenkmal St. Nicolaus dar. Im langen und intensiven denkmalrechtlichen Abstimmungsprozess haben wir jedoch deutlich machen können, dass die zerstörerische Überformung des Denkmals bereits 1938 stattgefunden hat. Das Versetzen des hermetisch-massiven Raumabschlusses, der erst durch die Zerstörung und das Schließen des ursprünglichen, großen Chorfensters entstanden ist, baute lediglich diese Verwundung zurück undrevitalisiert und verstärkt den bauzeitlich intendierten Raumeindruck. Es war eine große Chance, den nach Osten ausgerichteten Abschluss des Chorraumes jetzt wieder aus Glas realisieren und so lichtvoll öffnen zu können. Selbstverständlich wurden die bauzeitlichen bleiverglasten Obergaden- und Seitenschifffenster an der Nord- und Südwand erhalten und umfangreich saniert und gereinigt.
Unter der neuen hell-ockerfarbenen Sichtfassung der Wandflächen sind zwei polychrom gestaltete Fassungen aus der Bauzeit bzw. aus der frühen Nutzungszeit erhalten. In einem raumhohen Sichtfeld wurde diese florale und geometrische Schablonenmalerei freigelegt und als Zeitschicht erfahrbar gemacht. Wichtig für die helle und freundliche Gesamtwirkung des Raumes ist die farbliche Neufassung der Holzdecke und der Empore. Der ebenfalls bauzeitliche Terrazzoboden konnte auf einer großen Fläche erhalten und aufgearbeitet werden, für die neuen Flächen auf Fußbodenheizung wurden die gleichen Gesteinskörnungen verwendet, jedoch durch ein hellgraues Bindemittel vom alten Belag unterschieden.
Der Raum unter der Empore erhielt Einbauten für die Nebenräume – Küche, Seelsorgeraum Garderobe, Stuhllager und barrierefreie WC-Anlage –, der Hauptraum mit den Nischen der Seitenschiffe wurde so auf nahezu quadratischem Grundriss zentriert.
Im Chor wurden die vorhandenen Podeststufen ausgebaut - niveaugleich und ohne feste Einbauten symbolisiert der leere Raum der Apsis die Gegenwart Gottes. Lediglich der hellere Boden markiert hier eine Schwelle zum lichten Raum der Auferstehung. Die ebenfalls von uns entworfenen Prinzipalstücke Altar und Ambo sind nicht fest installiert, sondern können je nach Art der liturgischen Feier oder Veranstaltung mobil im Raum angeordnet werden. Sie sind zudem höhenverstellbar und von Rollstuhlnutzer*innen unterfahrbar. Die Kanzel von 1938 wurde zurückgebaut, der bauzeitliche Backsteinsockel ist jedoch erhalten geblieben. Eine kreisrunde Sandsteinplatte dient als Aufbewahrungsort für die aufgeschlagene Bibel und lädt zum „Lesen auf Augenhöhe“ ein.
Erschließung und die Nutzung aller Räume der erdgeschossigen Hauptebene sind im Sinne einer Kirche der Inklusion konsequent barrierefrei gestaltet.
Kernstück des Lern- und Gedenkorts im Außenraum ist das herausgelöste Altarbild, das tiefergesetzt in der Grube mit einem Void, einem leeren Raum konfrontiert wird. Profilierung und Fassung der Schutzverglasung entsprechen der neuen gläsernen Apsiswand, die Cortenstahl-Platten schaffen einen farblichen Bezug zum Backsteinmauerwerk der Kirche. Vitrinen an den beiden Umfassungswänden geben multimedial und barrierefrei Informationen zu den Krankenmorden der Nationalsozialisten, zur „Euthanasie“ in Hamburg, zur Geschichte der Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus und zu Kontext und Deutung des Altarbildes.
Der Gedenkort ist Teil des neu gestalteten Kirchplatzes, der in drei Niveaus terrassiert ist und so die unterschiedlichen Höhen des vorhandenen Geländes anbindet und zwischen der tief gelegenen Sengelmannstraße und dem höher gelegenen Stiftungsgelände vermittelt.
Der Vorplatz wird als umlaufendes Passepartout der Kirche aufgefasst, der L-förmige Aufenthaltsplatz bindet Schönbrunn und den Gedenkort ein.
Sitztreppen, breite Rampen, Glasbrüstungen, großformatige Werksteinplatten, Sitzelemente und die Einbeziehung des alten Baumbestandes schaffen eine hohe Verweilqualität und ermöglichen die barrierefreie Nutzung und Erschließung des Quartiers, bei der die Belange mobilitäts-, seh- und höreingeschränkter Menschen gleichermaßen Berücksichtigung fanden.
Bauherrin
Evangelische Stiftung Alsterdorf
Alsterdorfer Markt 4, 22297 Hamburg
Beteiligte Fachplaner*innen
Tragwerksplanung: Ingenieurbüro Nachtwey, Hannover
Lichtplanung: Ulrike Brandi Licht, Hamburg
Haustechnikplanung ELT: JLM Planung, Bornhöved
Haustechnikplanung SHL: Ingenieurbüro Carstens, Hamburg
Raumakustik: Carsten Ruhe, Prisdorf
Brandschutz: Assmann Schmidt Ingenieure, Lübeck
Flächen
BGF 534 m²
NUF 407 m²
AF 2.700 m²
Fotos 1 bis 12: Bernd Perlbach
Visualisierung: Jan Philipp Drude